MINDGAMES: Endlich wieder Zeit für Langeweile

Die Augen sind Richtung Zimmerdecke gerichtet. Mein Blick fixiert das unendliche Grauweiß der Raufasertapete und versucht daraus Gesichter und Figuren zu formen, die so schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Dabei presse ich meine Lippen fest zusammen und lass sie mit seltsamen Geräuschen vibrieren. "Mama, mir ist langweilig!" ...

Meine Mutter schaut mitleidig und leicht entnervt zu mir rüber: „Spiel doch was.“ Ich verdrehe meine Augen. „Aber was denn…“ So, oder so ähnlich waren manche Nachmittage meiner Kindheit mit viel Langeweile gefüllt. Wie eine große Blase, die man gern zum Platzen bringen möchte. Doch was ist aus meiner Langeweile heute geworden? Wie viel Zeit bleibt noch für sie übrig?

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Ich ertappe mich heute, wie ich durch den Alltag renne und von einem Häkchen auf der To-Do-Liste zum anderen springe. Die verbleibenden Zeitlücken baue ich dagegen mit all jenen Dingen zu, die sonst oft auf der Strecke bleiben: Freunde sehen, auf ein Konzert gehen oder feiern, einen Film im Kino sehen, endlich den dicken Wälzer lesen, Sport machen, Ausstellungen besuchen, ein Instrument lernen oder den langersehnten Tanzkurs absolvieren…? Der Katalog an Freizeitaktivitäten und Wünschen ist bunt und unerschöpflich. Da passiert es manchmal sogar, das einige der Entspannungsmomente klammheimlich auf die To-Do-Liste wandern und plötzlich zu Verpflichtungen werden. Dabei haben wir von diesen doch oft schon genug.

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So werden die zeitlosen Momente der potenziellen Langeweile immer weniger, bis sie ganz verschwinden. Es bleibt einfach keine Zeit mehr für das wirkliche „Nichts“. Immer gibt es einfach irgendwas zu tun. Und immer fühlen sich diese Momente in denen man sich endlich der langersehnten „Pause“ widmet, viel zu hastig und zu kurz an. Doch was ist die Lösung des Problems? Soll ich künftig „Langeweile“, „Herumlümmeln“ und „Chillen“ mit auf die To-Do-Liste packen? Wohl kaum!

Das einzig richtige Schlüsselwort heißt wohl: EINFACH MACHEN! Ab und zu die To-Do’s in unserem Leben vergessen, sie für ein paar Tage in die Bedeutungslosigkeit schicken und ihre freien Plätze nicht mit den langersehnten Aktivitäten und Beschäftigungen auffüllen, sondern leer lassen. Unser Geist braucht hin und wieder das „Nichts“: Ein Starren an die Zimmerdecke, jene Minuten, die ewig erscheinen und deren Ende wir uns herbeisehnen. Denn nur dann können wir das Erlebte verarbeiten und uns davon distanzieren, um es schlussendlich zu verstehen und darauf aufzubauen. Das geht nur, wenn wir nicht pausenlos ein Erlebnis an das andere reihen.

Wir brauchen Zeit zum Langeweile haben! Sie ist die Meditation unserer Kindheit und darf auch im Jetzt nicht fehlen.

Nachdem ich lang überlegt habe, wann mir das letzte Mal so richtig langweilig war, fallen sie mir dann wieder ein, die Momente der Monotonie und Eintönigkeit. Ich sehe mich zwischen Stehtischen und Prosecco-Gläsern, fest darauf konzentriert beim Small Talk nicht aus Versehen zu gähnen; oder auf einem versifften Sofa neben der Tanzfläche im Club, mich selbst darüber wundernd, warum ich tatsächlich überlege nach Hause zu gehen, anstatt wie früher rausgekehrt zu werden. Die Langeweile des Großstadtmenschen, wie bei Baudelaire. Auch das ist wohl wahr: Nicht immer kommt sie im strahlenden Gewand daher, die Königin der Fadesse.

Titelbild by Sabrina Weniger