Wilde Möhre 2017: Wenn Halt dich davon abhält abzuheben

Genau 2 Wochen ist es heute her: das kleine große Kunstwerk Wilde Möhre 2017. Meinen damaligen Ankündigungsartikel begann ich mit den Worten „feinste Musik unter freiem Himmel, durchtanzte Sommernächte und ... ab und zu Gummistiefel“ und im Nachhinein muss ich sagen, dass das den Rahmen dieses bunten Ramba Zambas südlich von Berlin ziemlich gut getroffen hat.

Doch noch einmal von vorne: mit meiner Kamera, 2 Regenjacken, einem Schlafsack, einer Zahnbürste und etwas Glitzer bepackt, machte ich mich von Köln auf ins netzfreie Drebkau. In den Wald. In das (viel zu kleine) Zelt von Freunden mitten auf einer Kuhweide. Achja und ohne Armbanduhr. Und ohne Handy. Mein Handy ist auch bekannt als mein Herzschrittmacher. Kein Handy, keine Laura. Challenge accepted.

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Auf der Zugfahrt von Berlin Richtung Drebkau im Nirgendwo lernte ich Alex kennen. Zurückhaltend erwähnte er, dass er gerne Ukulele spiele und so plauderten wir über dies und das, über unsere Vorfreude auf unsere erste Möhre und am Bahnhof in Drebkau angekommen, warteten wir schließlich gemeinsam auf den Bus, der uns und viele weitere aufgeregten Tanzwütigen zum Gelände bringen sollte. Alles war ziemlich gut organisiert, wir erhielten blaue Bändchen, die uns unserem Bus zuordneten, und warteten. Ich bat Alex, auf seiner Ukulele etwas zu spielen und einen Moment später wurde aus dem etwas schüchtern wirkenden Kappentragenden Typ aus Berlin der „Ukulelen-Alex“: er groovte „Jein“ von Fettes Brot, dass nicht nur ich mir plötzlich einbildete, den Text bestimmt auch super zu können und so wurde der Bahnsteig zur Bühne. Ein fettes Grinsen legte sich auf mein Gesicht, das ich bis Montag nicht mehr ablegen sollte. Und so ahnte ich langsam bei der Ankunft am Gelände, was mich da erwarten würde. Blaue Bändchen? Abfahrt!

Ehrlicherweise etwas überrollt von SO vielen Menschen (es tummelten sich etwa 6 Tausend von ihnen auf einem Gelände, auf dem die vorigen Jahre etwa die Hälfte tanzte…), war ich trotzdem vom ersten Moment an schockverliebt in die liebevolle und aufwändige Gestaltung des Festivalgeländes. So schlenderte ich durch den Wald, vorbei an weißen, im Wind schweifenden Tüchern, die an den Bäumen hingen. Das Sonnenlicht bahnte sich seinen Weg durch die Blätter und die bunt glitzernden Menschen in ihren Verkleidungen verkörperten die Magie dieses Ortes. Verkleidung schreibe ich, weil sie es für mich in den ersten Stunden waren. Doch je länger ich die Menschen betrachtete und die Atmosphäre des Festivals spürte und aufsog, desto mehr fügte sich alles zu einem großen Ganzen zusammen und die Verkleidungen wurden zu Kleidungsstücken. Kleidungsstücke verloren in dieser Buntheit und Harmonie an Symbolcharakter und erschienen mir, rein aus Funktionalität getragen zu werden. Frei von Wertung und Zwang. Fuck, was war das schön.

An Schlaf (in dem viel zu kleinen Zelt) war in diesen Tagen kaum zu denken. Besonders vor dem Hintergrund, dass ich als blutige Camper-Debutantin ziemlich früh die Bedeutung des Wortes „Isomatte“ begreifen musste. „Isomatte“ bedeutet „Isomatte“. Nicht „Polstermatte“. Nunja, Schlaf erschien ohnehin wie Zeitverschwendung – verzauberten mich nicht gerade meine persönlichen musikalischen Highlights wie Marcel Freigeist, Jan Oberländer, Rey&Kjavik (<3), Derrok, Joy Wellboy, Vimes oder alte Hasen wie Karotte, wurden zahlreiche Workshops, Theateraufführungen, Lesungen und Vorträge angeboten. Bei der Durchsicht des Programmheftes, in dem Angebote wie Spektrales Filzuniversum, Progressive Muskelentspannung, Zelte der Entfaltung, Ich kann nicht singen 2.0, Nipple Tassle – oben ohne tanzen für alle oder Bonding through Bondage neben genannten großartigen DJs und Bands zu finden waren, fragten meine Freunde ich uns: wer sind wir eigentlich? Sind wir in die „Generation Y-Schublade“ zu packen? In dem Programm lässt sich jedenfalls so viel ablesen: Jein. Es ist weder nein noch ja, weder schwarz noch weiß, weder klar noch undeutlich. Wir sind wahnsinnig vielseitig und vielschichtig und umso magischer war für mich die Erfahrung, dass uns an diesem Ort die Musik so verband und zu einer Einheit machte.

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Puh, ganz schön deeper Kram, über den man sich da unterhält und Gedanken macht. Also zurück zu dem, was ich eigentlich vor hatte: fotografieren. Die Atmosphäre so nah wie möglich an der Realität abzubilden. In den ersten Tagen fotografierte ich das Gelände, hatte Hemmungen, die Menschen zu fotografieren, weil sie hier im Urlaub waren. In der gesamten Zeit sah ich vielleicht 3 Personen mit Handy, was wohl auch an dem nichtvorhandenen Netz und damit auch nichtvorhandenen Internets lag, aber endlich musste oder konnte der Moment nicht mehr auf ein Handyfoto gezwungen werden. Endlich schien niemand das Bedürfnis zu haben à la #happy #festivalhappiness den Daheimgebliebenen zu beweisen, wie geil es gerade war, auf der Möhre zu sein. Der Moment wurde erlebt und genossen. Auch für mich als plötzlich Handylose eine neue Erfahrung. Klingt komisch, ich weiß.
Also je mehr Fotos ich machte, desto unzufriedener wurde ich. Es ist immer mein Ziel, die Stimmung einzufangen, aber es gelang mir nicht. Ich scrollte durch meine Fotos und sah nichts Neues. Nichts, was annähernd abbildete, was und wie ich dort erlebte. Bis zum Konzert von Amewu und seiner Songzeile „wenn Halt dich davon abhält abzuheben“. Mir wurde bewusst, dass ich die Menschen hier fotografieren musste, denn sie machten diesen Ort zu diesem Besonderen, was er war. (natürlich fragte ich jeden Einzelnen, den man direkt auf dem Bild erkennt, ob es okay sei und -für mich überraschenderweise- nickten alle freudestrahlend)

Durch solche und viele, viele weitere Momente lernte ich einmal mehr, wie gut es tut, loszulassen. Loszulassen von selbst gestellten Regeln und Normen, den Moment zu genießen und ja, Amewu, abzuheben.

Ein riesen Danke geht an das Wilde Möhre-Team für die gute Organisation und die Gestaltung dieses wundervollen Ortes, an dem viele, viele Menschen Urlaub und Inspiration fanden.