Seine Fotos zeigen oftmals das, was viele nicht sehen möchten. Wenn Francesco Bellina mit seiner Kamera loszieht, dann ist dies immer auch eine Reise auf der Suche nach Wahrheiten. So richtet die letzte Reportage des italienischen Fotorgrafen einen menschlichen Blick auf das Business mit Flüchtlingen im Niger.

Ex-Frauen von Schleppern, die sich als Köchinnen im Ghetto durchschlagen, einsame Soldaten die auf ihre Patrouille in der Wüste warten sowie junge Migranten, auf ihre Abreise ins “heilige Europa”. Die Fotos des Sizilianers spiegeln nicht nur die Lebensumstände und Gefühlswelten der Menschen wieder, sondern sind immer auch eine subtile Anklage gegen politische Apathie sowie soziale Missstände. Im Interview spricht er offen über seine persönlichen Beweggründe sowie zahlreiche Enttäuschungen, mit denen er als Fotojournalist unaufhörlich konfrontiert wird.

Erinnerst du dich an dein erstes Foto?

Theoretisch fotografiere ich seit ich ein kleiner Junge bin. Natürlich ist es ein Unterschied, ob wir über die ersten Schnappschüsse mit der Kamera oder das bewusste Fotografieren reden. Ich erinnere mich aber an einen Schulausflug nach Umbrien, den ich dokumentierte. Einige der Lehrer haben die Bilder dann mit nach Hause genommen, um sie ihren Familien zu zeigen, weil sie ihnen so gefallen haben.

Weißt du noch mit welcher Kamera du damals fotografiert hast?

Ja, mit einer einfachen analogen Kompaktkamera. Ich glaube einer Minolta, die ich als Geschenk zur Kommunion bekam.

Wie ging es dann weiter?

Tatsächlich haben meine Bilder früh eine bestimmte Richtung eingeschlagen, weil ich bereits als Jugendlicher eine große Leidenschaft für Politik hatte. Ein Ereignis, das meine Art zu Denken veränderte, war ein Hausbrand in einer der ersten Flüchtlingseinrichtungen Italiens, in Trapani auf Sizilien. Ganz in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Das war am 28. Dezember 1999. Damals war ich 10 Jahre alt. Sechs Migranten kamen ums Leben. Es gab zahlreiche Demonstrationen draufhin und ich begann mit einer kleinen digitalen Kamera loszuziehen und Bilder von den Flüchtlingen sowie von den Demos zu machen. Die Kamera hatte gerade mal 2 Megapixel. Damals erschien mir das wahnsinnig viel!

Also hast du dich schon von Beginn an mit dem Thema Migration auseinandergesetzt?

Ich glaube nach dem Brand, sind das erste Mal Tausende von Menschen auf die Straßen gegangen zu einer Zeit, in der noch kaum jemand über Flüchtlinge sprach. Von diesem Moment an, habe ich begonnen mich für das Thema zu interessieren. 2011, während meines ersten Uni-Semesters, realisierte ich dann eine erste Fotoserie über Migranten in einem anderen Flüchtlingsheim in Trapani. Das war schon wesentlich durchdachter, als die Bilder zuvor. Ich machte mehrere Portraitaufnahmen in Schwarzweiß und war mir über meine Arbeit bewusst. Seit ich das erste Mal meine Kamera in die Hand nahm, wollte ich eine Nachricht kommunizieren.

Von was handeln deine Bilder?

Ohne mich groß dabei einzumischen, lese ich oft auf Facebook oder ähnlichen Seiten die moralischen Debatten anderer Fotografen im Hinblick auf die Frage, ob ein Fotograf gleichzeitig ein Zeuge dessen ist, was er fotografiert, oder nicht. Natürlich ist man als Fotograf in jeglicher Hinsicht ein Augenzeuge. Das ist für mich so, als diskutiere man über die Ehrerbietung in der Politik. Die ist keine Tugend, sondern eine Voraussetzung. Allerdings reicht das für mich nicht aus. Ein Foto – zu mindestens im Hinblick auf ein bestimmtes Thema – sollte meiner Meinung nach nicht nur Zeugnis sondern gleichzeitig auch eine Art Anklage sein. Momentan stelle ich mir zum Beispiel die ethische Frage, ob ich bestimmte Politiker abbilden sollte oder nicht. Auf der einen Seite möchte ich Leuten, wie Matteo Salvini, ungern portraitieren. Auf der anderen Seite reizt mich die Gelegenheit ihn an einem Ort wie zum Beispiel Corleone zu fotografieren, um irgendwann dieses Zeugnis von ihm zu haben, wenn er für alle Delikte, die er begangen hat, zur Rechenschaft gezogen wird.

In welchem Maß kann deiner Meinung nach eine Fotografie bestimmte Themen anprangern?

Ich glaube, dass das Ausmaß an sozialer Polemik und politischer Gewalt heutzutage im Vergleich zu den Vorjahren rasant gestiegen ist. In einer so hässlichen Phase wie momentan, sollte Fotografie umso mehr dazu dienen, Probleme in der Welt – vielleicht nicht zu lösen, weil sie dazu nicht in der Lage ist – aber sie zu mindestens anzuklagen beziehungsweise das zu dokumentieren, was Medien uns oftmals verbergen. Denn auch in der Presse regiert mittlerweile das Interesse des Marktes. Es gibt Geschichten, über die niemand spricht, aber genau hier ist die Anwesenheit eines Journalisten – sei es ein Fotograf, Videomaker oder Autor – von grundlegender Bedeutung.

Was ich suche, ist die Realität.

Was sollte für dich keinen Platz in der Fotografie haben?

Für mich muss eine Fotografie ehrlich gegenüber dem Betrachter sein. Es gibt Fotos, die komplett in Szene gesetzt sind und wenig aussagen. Im Journalismus zum Beispiel gibt es auf der einen Seite jene Autoren, die ohne ein vorgefertigtes Konzept herausfinden wollen, wie eine Geschichte wirklich abgelaufen ist. Und auf der anderen Seite gibt es Journalisten oder Fotografen, die eine These im Kopf haben und diese auf Biegen und Brechen in ein Korsett zwingen. Vielleicht entdecken sie sogar während ihrer Recherche und Arbeit, dass ihre These nicht aufgeht und konstruieren dennoch am Ende die Story so, dass alles passt. Diese sind meiner Meinung nach die Schlimmsten. Weißt du, wie oft mein Konzept nicht aufgegangen ist?

Kannst du mir ein Bespiel nennen?

Nehmen wir zum Beispiel die nigerianische Mafia. Ich hatte großes Glück mich diesem Thema angenommen zu haben, weil ich damit das erste Mal im Ausland veröffentlichen konnte. Aber je mehr ich über die nigerianische Mafia recherchiert habe, desto mehr wurde mir bewusst, wie irreführend es ist, sie überhaupt als solche zu bezeichnen. Eine “nigerianische” Mafia existiert nicht wirklich. Es sind einzelne kriminelle und mafiöse Organisationen, die verurteilt werden müssen. Dagegen wird oftmals einer gesamten Kultur der Prozess gemacht. Dies jedoch heutzutage in Italien laut zu sagen ist schwierig, weil sowohl die Strafverfolgung als auch die Politik auf das Pferd aufgesprungen sind.

Welche Rolle spielt für dich die Beziehung zu den Menschen, die du fotografierst?

Ich glaube, dass ich riesengroßes Glück habe, etwas mein Eigen zu nennen, dass wahrscheinlich mehr wert ist, als mein fotografisches Können oder meine Technik: Empathie. Damit meine ich kein gespieltes Interesse, sondern echte Empathie. In der Regel erkennt man das sogar auf meinen Fotos. Wenn mir eine Person unsympathisch ist, sieht man das sofort. Wie zum Beispiel eine Fotografie, die ich vor Jahren von Berlusconi gemacht habe. Meiner Meinung nach sollte man nicht, sondern muss man eine Beziehung zu den Personen aufbauen, die man fotografiert. Mental in ihre Welt einzutauchen verleiht später auch der Fotografie Ausdrucksstärke und Wahrhaftigkeit.

Was ist deine Herangehensweise, wenn du jemanden portraitierst?

Als ich zum Beispiel eine Reportage in Campobello di Mazara fotografierte, wo Landarbeiter und Migranten illegal angeworben werden, bin ich unzählige Male dorthin gefahren und habe anfangs meine Kamera gar nicht mitgenommen. Wenn ich ein neues Projekt beginne – egal ob im Niger, im Ghetto oder auf den Feldern Siziliens – erkläre ich als Erstes den Leuten, warum ich dort bin und was meine Intention ist. Am Anfang wollten die Jungs in Campobello nicht, dass ich Fotos von ihnen mache. Also haben wir eine Art Versammlung einberufen und ich habe mich Stunden über Stunden mit ihnen hingesetzt und geduldig diskutiert, warum ich ein Portrait von ihnen schießen will. Klar haben sie am Anfang gefragt: „Und was um Himmels Willen willst du mit dem Portrait von uns?“ Daraufhin sagte ich ihnen, dass in unserer Gesellschaft ein einziges Gesicht oftmals mehr sagt, als 1000 Worte oder hunderte von politischen Debatten. Irgendwann haben sie mich als einzigen der Journalisten reingelassen und die anderen mussten draußen bleiben. Sie wussten ganz genau, was sie von mir erwarten können. Aus diesem Grund bevorzuge ich auch Projekte, die mehr Zeit in Anspruch nehmen und mag es weniger fürs Fernsehen oder die Tagespresse zu fotografieren, wo alles rasant im Kasten sein muss. Ich will wirklich die Personen vor der Kamera kennenlernen.

Wenn ich fotografiere, übernehme ich eine große Verantwortung. Man kann nicht leugnen, was man macht.

Inwiefern bringst du dabei deine eigene Person ins Spiel?

Auf unserer Reise im Niger haben wir einen der führenden Schlepper kennengelernt, welche die Menschen in Bussen und LKWs von Niger nach Libyen brachten. Ein Freund, der mich begleitete, sagte mir dass dieser Mann eine Liste mit allen Passagiernamen besitzt, die von 2010 bis 2016 die Wüste durchquerten. Ein unveröffentlichtes Dokument von größter Bedeutung. Ich habe diesen Mann niemals nach der Liste gefragt. An einem bestimmten Punkt, während wir uns lange unterhielten, sagte er zu mir: „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen“, und holte dieses Register hervor. Ich kam dort also nicht mit der Kamera angerannt, sondern habe mich vielmehr mit ihm über Politik, Europa und Migration ausgetauscht, bis er mir Einblick in seine Welt gewährte. Mich selbst einzubringen, ist für mich fundamental, weil am Beginn meiner Arbeit immer meine Neugier und mein tatsächliches Interesse für die Themen steht. Sind diese nicht vorhanden, mache ich auch keine Fotos.

Fotografen, die du bewunderst?

Alex Majoli. Und dann gibt es in Wirklichkeit noch viele andere, wie Paolo Pellegrin oder Letizia Battaglia. Der Grund warum ich als Kind begann mich für die Fotografie zu begeistern, war Letizia Battaglia. Die Wände in meinem Zimmer waren voll mit Zeitungsausschnitten ihrer Fotografien über die Mafia. Die Mafia war für mich und in meiner Familie, immer ein zentrales Argument, weshalb ich bis heute den Wunsch habe gegen dieses Phänomen vorzugehen. Die historische Dokumentation, die Letizia Battaglia mit ihrer Arbeit realisierte, ist einzigartig und erstklassig.

Fehlen Zeugnisse, wie diese heutzutage in der Presse?

Leider gibt es heutzutage von Seiten der Zeitungsverlage nicht mehr das gleiche Interesse, ähnliche Arbeiten zu veröffentlichen. Wenn du ihnen ein Foto schickst, das schonungsloser ist als andere, erhältst du meistens die Antwort, dass sie es aus Respekt am Leser nicht veröffentlichen können. Aber meiner Meinung nach ist die Sensibilität des Lesers, immer auch die Sensibilität des Wählers. Und vielleicht muss dieser erst sehen, was wirklich in der Welt passiert, um eine richtige Entscheidung treffen zu können…

Ein Bild, dass du niemals vergessen wirst?

Mmmmh. Schwierig. Wahrscheinlich historische Fotos, wie das Bild der zwei afroamerikanischen Athleten während der olympischen Spiele 1968 in Mexiko, die ihre Faust in den Himmel strecken. Dieses Foto habe ich auch in meinem Studio an der Wand hängen. Am Ende beeindrucken mich stets jene Fotografien, die technisch vielleicht nicht einwandfrei sind, aber die Würde von Menschen abbilden. Menschen, die ihren Kopf nach oben strecken, um sich gegen ein System aufzulehnen.

Über Francesco Bellina
Aufgewachsen in der sizilianischen Hafenstadt Trapani, widmet sich der italienische Fotograf (29 Jahre) in seinen Bildern insbesondere den humanitären Nöten und Migrationsproblemen unserer Zeit. Für sein Projekt “Sex Slavery in the Name of God”, welches den Menschenhandel und die Prostitution von nigerianischen Mädchen in Europa sowie die Verbindung mafiösen Gruppierungen thematisiert, wurde er mit dem dritten Platz des DIG Award ausgezeichnet. In seiner zuletzt veröffentlichten Reportage Tankara portraitierte die Lebensumstände in Agadez, einer Stadt im Niger, in der seit Jahrzehnten das Business mit Flüchtlingen floriert.

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