Einige wenige Sonnenstrahlen säumen sich ihren Weg durch die engen Gassen. Sie dringen durch die vielen Schichten bunter Wäsche, die sich von einer Hauswand zur anderen hangeln und Schatten in der größten Mittagshitze bieten. Die Luft ist erfüllt vom Duft frittierter Leckereien und Kaffee. Und das Echo der unzähligen Vespas, die über den Asphalt knattern, hallt hinauf bis zum Vesuv: NEAPEL! Der Inbegriff von Leidenschaft, Chaos und Genuss...

Kaum eine Stadt ist widersprüchlicher, kaum eine Stadt genialer! Wahrscheinlich ebenso genial wie das weltberühmte Buch „Meine geniale Freundin“ der Autorin Elena Ferrante. Es erzählt nicht nur die Geschichte einer Freundschaft, sondern auch einer Stadt und bot mir den perfekten Reiseführer auf einer Entdeckungstour durch die süditalienische Metropole.

Wer es immer noch nicht gelesen hat, der sollte schnellstens zum Buchladen eilen (und das gilt nicht nur für die weiblichen Leserinnen!). „Meine geniale Freundin“ ist nicht ohne Grund einer der meistverkauften Bestseller der Welt. Die vierteilige neapolitanische Saga der Autorin, die sich hinter dem geheimnisvollen Pseudonym „Elena Ferrante“ versteckt und deren wahre Identität bis heute nicht einhundertprozentig geklärt ist, wurde insgesamt in über 40 Sprachen übersetzt. Doch nicht nur die Gedanken und das Leben der beiden Protagonistinnen Lila und Lenu machten es zu einem Welterfolg – die Tetralogie ist auch eine Reise in eine Stadt, deren lebendige aber auch dunkle Vergangenheit, die Geschichte Italiens prägte.

Reist man nach Neapel, dann sind die ersten Assoziationen: Pizza, Pasta und Camorra! Doch diese Stadt ist vielschichtiger, als es die bloßen Stereotypen zulassen. Ein besonderes Erlebnis das erste Mal Neapel zu Begegnen ist die Anreise mit dem Schiff. Einer der größten und ältesten Häfen Italiens, der bereits seit der Antike existiert, ist mit vielen Kreuzfahrtschiffen oder per Fähre (zum Beispiel von Genua, Palermo oder Cagliari) aus zu erreichen. Einmal von Bord, stolperte ich automatisch in die Altstadt Neapels. Hier wandelte ich vorbei an herrschaftlichen Häusern rund um die Piazza di Plebiscito oder den Corso di Umberto I mit der ehrwürdigen Galleria. Die beiden Protagonistinnen im Buch von Ferrante kamen in ihren Teenagerjahren in dieser Gegend das erste Mal mit dem „noblen Neapel“ in Kontakt und bestaunten die elegant gekleideten Damen. Bis heute ist dieser vornehm verstaubte Charme rundum den alten Königspalast erhalten geblieben.

An der Piazza dei Martiri im Viertel Chiaia, wo Lila ihr Schuhgeschäft eröffnete, gönne ich mir schließlich einen kleinen Mittagssnack. Im Prinzip kann man in Neapel was das Essen betrifft nichts falsch machen. Die Stadt ist bekannt für ihr traditionelles Streetfood. An jeder Ecke gibt es frittierte Teilchen, leckeres Gebäck (unbedingt Sfogiatelle probieren!) und natürlich die wichtigste aller neapolitanischen Erfindungen: Die Pizza! Neben dem Klassiker Margherita steht hier übrigens die „Pizza Bianca“ hoch im Kurs, also eine Pizza ohne Tomatensoße dafür aber mit viel Mozzarella und frischen Zutaten wie grünen Tomaten, Auberginen und Speck. Ich ließ mir dagegen eine Frittatina schmecken, ein „Ball“ frittierter Bucatini mit Erbsen und Schinken!

Nach der kleinen Verschnaufpause raffe ich mich auf, um jenes Viertel zu erkunden, in dem Lenù und Lila ihre Kindheit verbrachten, jenes Neapel fernab von Eleganz und „dolce vita“, geprägt von Armut und Arbeitslosigkeit – bis heute. Mit der Metro (oder besser dem Bummelzug) fahre ich von Montesanto nach Gianturco. Von dort sind es nur wenige Minuten bis ins Herz des Rione Luzzatti, einem Viertel in der Peripherie Neapels, in der nicht nur die Dreharbeiten zu der TV-Serie rundum das Buch „Meine geniale Freundin“ stattfanden, sondern auch Recherchen einiger italienischer Journalisten Parallelen zum Buch enträtselten. Viele von ihnen vermuten das hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“ der Schriftsteller Domenico Starnone gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Übersetzerin Anita Raja, stecken. Und tatsächlich deuten die meisten Zeichen auf den Ursprung des Buches in den verstaubten Straßen dieser Arbeitersiedlung.

Nein! Hier ist Neapel nicht mehr ganz so edel und leichtzugänglich für Touristen wie in der Altstadt, sondern karg und einfach. Häuserblocks der Nachkriegszeit türmen sich rund um triste Innenhöfe. Die Wäsche vor den Fensterläden scheinen die einzigen Farbtupfen in diesem eher grauen Wohnviertel zu sein. Nachdem ich den Tunnel unter den Eisenbahngleisen durchquert habe, wird mir schnell klar, dass meine Präsenz in dieser Gegend wesentlich mehr ins Auge sticht: Wer nicht hier lebt, hat kaum etwas hier zu suchen. Außer vielleicht ein Stück Vergangenheit. Ein chinesischer Großmarkt begrüßt mich auf den ersten Metern. Danach wird es einsamer auf der Straße. Hinter dem verlassenen Schulhof biege ich in die Straße zur einzigen Kirche des Viertels ein, der Chiesa della Sacra Famiglia. Im Buch fand dort die Hochzeit Lilas statt.

Ich spaziere durch die Straßen und bin glücklich den Weg hier hergewagt zu haben. Mir wird bewusst, dass dies nötig ist um Neapel in seiner Gesamtheit zu begreifen. Ein Ganzes, das die komplexen Facetten einer Stadt bildet, die seit jeher zerrissen ist in Stolz und Verzweiflung, Treue und Missgunst, Lebensfreude und Nostalgie. Hier in den Peripherien der Mittelmeermetropole hält bis heute die Camorra die Fäden in der Hand und bis heute zieht sie die jungen Generationen in ihren Bann, die ohne Perspektive, Bildung und Arbeit heranwachsen. Eine bittere Kostprobe dieser Geschichten liefert ebenfalls der kürzlich erschienene Film Paranza dei Bambini, an dessen Drehbuch der italienische Journalist und Mafia-Experte Roberto Saviano beteiligt war.

Nach diesem Abstecher begebe ich mich zurück in die Innenstadt und leihe mir eine Vespa aus, um dem ständigen Auf und Ab Neapels zu entkommen. Die Stadt ist in Hanglage erbaut amFuße des Monstervulkans Vesus erbaut, das bietet einen wundervollen Ausblick über den Golf von Neapel bis nach Ischia (wo Lenù dem grauen Alltag ihres Viertels entfloh), aber ist zu Fuß unglaublich anstrengend. Auch wenn der Verkehr in Neapel etwas abenteuerlich ist, kann man auf diese Weise die Stadt hervorragend erkunden. Besonders empfehle ich Vomero und die Fahrt hinauf zum Castello Sant’Elmo mit einem atemberaubenden Blick! Anschließend geht es entlang des Lungomare Carracciolo. Hier verbrachte Lenù einige Sommer am „Strand“ und bis heute lassen die Neapolitaner hier ihre Seele baumeln und schlecken genüßlich ein Eis.

Am Abend will ich schließlich die alternative Seele der Stadt erkunden und spaziere über den Piazza Monteoliveto. Hier im szenigen Teil der Stadt versammeln sich zum Aperitivo junge Neapolitaner und Studenten um in lässiger Atmosphäre bei einem Bier oder Glas Wein den Tag ausklingen zu lassen. Nicht weit entfernt vom Piazza Monteolivieto befindet sich auch die Universität und Port’Alba, mit den vielen Buchläden. Die politisch engagierten Mädchen im Buch ließen sich in dieser Gegend von den stürmischen Revolten der Sechziger und Siebziger Jahre inspirieren.

Auch heute noch ist Neapel eine Wiege des politischen Umbruchs „von unten“. Spaziert man von Port’Alba Richtung Materdei gelangt man zum heutigen besetztem Kulturzentrum „Je so‘ pazzo“. Vor einigen Jahren gründete sich in der ehemaligen Psychiatrischen Klinik eine Initiative, die ein Solidaritätszentrum für sowohl kulturelle als auch soziale und politische Aktivitäten startete. Menschen jeglicher Generationen und Herkunft können hier kostenlos ein reichhaltiges Angebot an Kunst-, Sprach- und Sportkursen besuchen. Es gibt ein Kino, eine Theatergruppe, einen Kindergarten und vieles mehr. Aus diesem lokalen Netzwerk entstand 2017 schließlich eine neue linke Partei namens „Potere al Popolo“, die 2018 das erste Mal an den nationalen Wahlen teilnahm.

Zum Baden und für einen Abstecher ans Meer solltet ihr aber die traumhafte Panoramastraße Richtung Posillipo und Marechiaro einschlagen, die auch Lila frisch verheiratet zu ihren Flitterwochen führte. Von hier aus habt ihr die beste Sicht über die ganze Stadt, den Golf von Neapel und den Vesuv. Einige kleine Ruderboote bringen euch dann von Marechiaro zu wilden Stränden und dem Sprung ins kristallklare Meer näher.Wer danach hungrig ist, dem empfehle ich entweder eines der kleines Restaurants rundum Posillipo oder die altehrwürdige Pescheria Azzura mitten im Altstadtzentrum. Hier in Pignasecca, einem der ältesten Straßenmärkte der Stadt kann man tagsüber nicht nur prima einkaufen, sondern eben auch frischen Fisch urgemütlich auf der Straße essen. Mein unschlagbarer Tipp Pasta mit Hummer! Und wenn ihr nicht spätestens jetzt Hunger und Lust auf Neapel bekommen habt, dann soll euch der „Teufel“ holen – auch über den gibt es hier einige Legenden, doch dazu wagt ihr am besten selbst einen Kurztrip in „meine geniale Stadt“!