Wie jedes Jahr um diese Zeit werfe ich einen Blick zurück auf die Filme und das Erlebte während eines der größten Filmfestivals Europas: der Berlinale. Auch 2020 habe ich mich in den Kinos der deutschen Hauptstadt auf die Suche nach jenen Geschichten gemacht, die sonst nur am Rande des Spektakels Beachtung finden. Et voilà, mein Recap: Eine Hommage an das junge deutsche Kino und seinem Drang hin zu Kollektivbewusstsein, Aktivismus und jede Menge Mut!

Ruhmreicher Berlinale-Siegerfilm dieses Jahr war der Episodenfilm „There is No Evil“ des Regisseurs Mohammed Rassulof, der den golden Bären für seine hoch emotionale Erzählung der Todesstrafe im Iran erhielt. Doch nicht nur die Publikumslieblinge des Wettbewerbs widmeten sich gesellschaftskritischen Themen, die unter die Haut gingen. Besonders beeindruckt haben mich dabei zwei Coming-of-Age Filme des deutschen Nachwuchskinos.

Futur Drei von Faraz Shariat

Der Iran spielt auch im ersten Leinwandstreifen meiner Auswahl eine Rolle. Doch der Panorama-Film „Futur Drei“ spielt nicht in Teheran sondern vor unserer Haustür. In dem semibiografischen Werk erzählt der junge Regisseur Faraz Shariat eine Geschichte, die sich klar gegen Sexismus, Queer-Phobie und Rassismus stellt, dabei jedoch die neue und bisher selten gezeigte Perspektive junger schwuler Männer mit Migrationshintergrund einnimmt. Parvis, der Main Character des Films, ist in Deutschland aufgewachsen und Sohn iranischer Eltern. Ausgelassen feiert er sich mit Raves und Sex Dates durchs Leben, bis er in einer Flüchtlingsunterkunft Sozialstunden ableisten muss. Dort trifft er auf Amon und seine Schwester Banafshe, die aus dem Iran geflüchtet ist. Während eines heißen Sommers geraten die beiden Jungs in einen Strudelbad an Gefühlen, das lediglich von der Erkenntnis gesäumt wird, dass sie beide irgendwie nicht in Deutschland zu Hause sind.

Benjamin Radjaipour, Banafshe Hourmazdi und Eidin Jalali (v. l. n. r.) erhielten für ihre Darstellungen in Futur Drei den Götz-George-Nachwuchspreis. Foto: © Edition Salzgeber/ Jünglinge Film
Futur Drei, Berlinale 2020. Foto: © Edition Salzgeber/ Jünglinge Film

Für Shariat ist „Futur Drei“ ein Aktivismus, der von der Leinwand ausgeht. Es geht um Grenzerfahrungen, die er mit einer erfrischenden und offenen Sprache zu brechen versucht. Dabei überschreitet er nicht nur filmische, sondern auch gesellschaftliche Tabus. So bekommt er bei den Dreharbeiten sogar Unterstützung seiner ebenfalls iranischen Eltern, welche die Rolle von Parvis Eltern übernahmen, und dem Filmkollektiv Jünglinge. Hierarchien und Regeln zu bersten, ist dabei das erklärte Ziel der Gruppe. Mit ihren Filmen von wollen sie nicht nur helfen das Kollektivbewusstsein zu stärken, sondern auch Multikulturalität, gesellschaftlichen Freigeist und hybride Welten untermauern!

Nora (Lena Urzendowsky, l.), ihre Schwester Jule (Lena Klenke, M.) und eine Freundin hoch oben in Kreuzberg. (c) Foto: Martin Neumeyer/ Jost Hering Filme
Kokon von Leonie Krippendorff

Auch im Film „Kokon“ der Regisseurin Leonie Krippendorff, der in der Sektion Generation 14Plus vorgestellt wurde und 2018 in der Script Station von Berlinale Talents entwickelt wurde, geht es um Wandlung, Mut und die aufschwappenden und gleichzeitig verwirrenden Gefühle einer jungen Generation, die zwischen den Häuserblocks des Kottbusser Tors nach Identität, Anerkennung und Liebe greifen. Mit faszinierend intimen Kamerabildern und im warmen Licht eines heißen Sommers führt uns die deutsche Regisseurin durch den Mikrokosmos ihrer Protagonistin Nora. Dabei darf der Zuschauer unmittelbar dabei sein, wenn sich die vorerst stille Beobachterin leicht und zerbrechlich wie ein Schmetterling in ihrer emotionalen Schönheit und Tiefe entpuppt, während sie ihre Gefühle für Romy, die Mitschülerin ihrer Schwester, entdeckt.

„Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis. Von der einen Seite des Kottis zur anderen und wieder zurück, solange bis wir irgendwann aus dem Becken springen.“

Realitätsnah und vor allem durch die universelle Sprache der Liebe, erzählt uns der Film von den fragilen Teenagerjahren im Berliner Brennpunkt-Kiez, die nicht nur durch die persönlichen Erfahrungen der Heranwachsenden beeinflusst werden, sondern eben auch durch soziale Weichen und gesellschaftliche Stigmatisierungen. Zeitlose Poesie, die sich an alle Generationen richtet.

Credits
Titelbild: Kokon by Leonie Krippendorff, Berlinale 2020 (c) Martin Neumeyer / Jost Hering Filme