Manchmal macht man eine Reise zu einem Ort, um am Ende einen ganz anderen Ort zu finden. So ähnlich erging es mir bei meiner Reise nach Paris letzte Woche. Durch Zufall entdeckte ich dort die Arbeiten zweier Fotografen, die nicht nur in ihrer Ausdrucksstärke miteinander verbunden waren, sondern auch in ihrem Inhalt, der die Geschichte, Menschen, Seele und Wunden des Amazonas in den Fokus rückt. Teil 1 widmet sich den Fotografien der in Brasilien lebenden Fotografin Claudia Andujar.

Es braucht nicht lang, um beim Anblick der Fotografien Claudia Andujars den Amazonas unter der eigenen Haut spüren zu können. Die Bilder der gebürtigen Schweizerin sind nicht irgendwelche Bilder. Sie dokumentieren nicht einfach nur das Leben und Traditionen eines indigenen Volkes, dessen Existenz seit Jahrzehnten bedroht ist, sondern es scheint als fangen sie auch deren Geist und denen des Regenwaldes ein. Das Spiel mit Langzeitbelichtung, Weitwinkel, Überblendungen und Farbfilter manifestiert eine beinahe schemenhaft mystische Abstraktion.

1971 besucht die Fotoreporterin das erste Mal die Yanomami im Amazonas. Sie hatte den Auftrag der brasilianischen Zeitschrift Realidade erhalten, das größte aller indigenen Amazonasvölker zu fotografieren. Den heute noch circa 33.000 im Regenwald lebenden Yanomami steht ein Territorium von beinahe 192.000 Quadratkilometer an der Grenze zu Venezuela zu. Ein Gebiet, dass sie sich über viele Jahrzehnte, vor allem dank der Unterstützung Claudia Andujars, erkämpft haben.

Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts lebte das Volk weitgehend isoliert und ursprünglich. Als Andujar die Yanomamim das erste Mal besuchte, wussten diese wenig mit dem seltsamen schwarzen Kasten der weißen Frau anzufangen. Dagegen gingen sie mit der Fotografin selbst einen freundschaftlichen Bund aus Lebenszeit ein. Die gebürtige Schweizerin tauchte nicht nur in das Leben der Menschen ein und portraitierte ihren Alltag, sondern schien auf wundersame Weise eben auch jene Energie des Waldes, seine Geister und Geheimnisse einzufangen, die sonst nur den Augen der Schamanen vorbehalten sind. Ohne Worte, lernte sie zu verstehen. Besonders deutlich wird diese Kosmologie in der Serie „Träume der Yanomami“

I am connected to the indigenous, to the land, to the primary struggle. All of that moves me deeply. Everything seems essential. Perhaps I have always searched for the answer to the meaning of life in this essential core. I was driven there, to the Amazon jungle, for this reason. It was instinctive. I was looking to find myself.

Claudia Andujar

Die Tochter eines jüdischen Ungarns und einer schwedischen Mutter entgeht in ihrer Kindheit nur knapp dem Holocaust. Aufgewachsen in Transsilvanien, wird ihr Vater und dessen Familie deportiert und im KZ-Dachau ermordert. Sie flieht mit ihrer Mutter erst in die Schweiz, kurze Zeit später nach New York und anschließend nach Brasilien. In São Paulo beginnt sie als erst 24-jährige Fotojournalistin ein neues Leben, ein Leben, das sie später dem Kampf für die Freiheit der Yanomami widmet. Nicht nur als Künstlerin, sondern auch als politische Aktivistin.

1978 gründet sie mit ihren Mitstreitern dem Sprecher und Schamanen der Yanomami Davi Kopenawa, dem Missionar Carlo Zacquini und dem Anthropologen Bruce Albert die Commissão Pro-Yanomani (CCPY). In den achtziger Jahren werden die stillen, intimen Schwarz-Weiß-Fotografien der Künstlerin dann zu einer ihrer wichtigsten Waffen, um auf die Probleme des indigenen Volkes und der Zerstörung ihres Lebensraums aufmerksam zu machen. Internationale Museen wie das Guggenheim schenken ihr größte Beachtung. 1992, sieben Jahre nach dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur, wird dank ihres Wirkens dann endlich die Terra Indígena Yanomami ausgerufen, eines der größten Indio-Reservate Brasiliens. Doch der Frieden der Yanomami ist heute erneut gestört. Die skrupellose Politik des brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro und die ständige Bedrohung durch illegale Minengräber, Waldrodungen, den Klimawandel und Krankheiten bringen das Leben der Menschen im Amazonas bis heute in Gefahr. Ein Grund mehr für uns den Fotografien Claudia Andujars vollste Aufmerksamkeit zu schenken und nicht nur für den Schutz der Yanomami, sondern auch dem Schutz ihrer Umwelt – dem Amazonas – einzustehen.

Falls ihr nach Paris kommt: Noch bis zum 10. Mai 2020 lassen sich die über 300 Fotografien der Serie „The Yanomami Struggle“ in der Fondation Cartier in Paris besichtigen. Danach wird sie im Herbst 2020 auf der Triennale in Mailand zu sehen sein, sowie im Fotomuseum Winterthur (Schweiz) und der Foundation Mapfre, in Madrid.