HI, MY NAME IS ist unsere kontinuierliche Interview-Reihe mit talentierten Fotografen, Musikern, Künstlern und inspirierenden Persönlichkeiten unserer Zeit. Ein zweifelsfrei unverwechselbarer Musiker ist der der italienische Singer-Songwriter Alessio Bondì. Ein Kosmopolit, der von seiner Inselheimat Sizilien aus das Zeug dazu hat die Welt zu erobern. Wie? Ganz und gar auf "Palermitanisch"! Was das bedeutet, verrate ich euch hier im Interview.

Bereits mit dem ersten Anschlag seiner Gitarrensaiten in der Bar 800A im Wedding wird klar, dass die Musik des Sizilianers ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich schön. Woran das liegt, ist schwer in Worte zu fassen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es die Sprache ist. Denn alle Lieder seines Debüt-Albums „Sfardo“ singt der italienische Newcommer im sizilianischen Dialekt seiner Heimatstadt Palermo – Wer soll das verstehen? Könnte ein Zyniker nun meinen. Alessio selbst sagt, dass fernab von der Mittelmeerinsel niemand seine Texte versteht. Auch für Festland-Italiener gleicht Sizilianisch beinahe Hieroglyphen. Nichtsdestotrotz wurde „Sfardo“ zum Überraschungserfolg in Italien und räumte sogar den renommierten Premio De André ab. Seit letztem Jahr gibt es die Platte nun in zehn weiteren Ländern. Von Deutschland bis nach Brasilien will Alessio seine Musik und damit auch ein Stück die Kultur seiner Heimat tragen. Damit die fantasievolle Poesie seiner Texte am Ende dennoch verständlich wird, wurden seine Lyrics in sechs verschiedene Sprachen übersetzt: Italienisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch und Portugiesisch. Doch das allein verleiht den Liedern nicht diese besondere Aura. Vielmehr ist es eine Fusion vielfältiger Fragmente: Verspielte Rhythmen, leidenschaftliche Wehmut, kindlicher Einfallsreichtum und harmonische Raffinesse setzen sich zu einem aufrichtigen Liebesbekenntnis an die Musik zusammen. Eines, das jegliche Genregrenzen durchbricht und am Ende das stehen lässt, was die Sprache eines Songs wirklich auszeichnet: Die Seele.

Deine erste musikalische Erinnerung?

Meine erste Erinnerung an Musik? Sprechen wir also über meine Kindheit?

Du entscheidest, wo alles begann…

Also, da gibt es sicherlich viele Momente, aber einer fällt mir besonders ein ein. Ich war noch ziemlich klein und erinnere mich, immer gern Musik gehört zu haben. Auch wenn wir nicht viele Platten zu Hause hatten. Eine Sache, die jedoch nie im Auto meiner Eltern fehlte, war eine Kassette, ein Mix-Tape, auf dem drei oder vier Lieder von Pino Daniele waren. Und nach denen war ich ganz verrückt! Auch wenn ich noch nicht sagen konnte, ob das nun cool oder uncool war, gefiel mir seine Musik richtig gut. Den Text von “A me me piace ‘o blues” konnte ich auswendig! Vielleicht gefällt mir deswegen bis heute Bluesmusik so gut!

Und wann hast du entschieden selbst Musik zu machen?

Ich glaube dafür gab es keinen bestimmten Moment, sondern das passierte schrittweise. Eigentlich habe ich jeden Tag entschieden Musik zu machen. Aus Leidenschaft und sicherlich auch aufgrund von Veranlagung. Es war für mich einfach die natürlichste Sache der Welt. Dann schließlich eigene Songs zu schreiben, war ebenfalls spontan. Wenn man einmal eine Reihe von Liedern hat und Freunde anfangen sie zu mögen, beginnt man immer öfter zu singen. Schließlich fängt man an öffentlich in Bars und Lokalen zu spielen und irgendwann fragen einen die Leute: “Hast du auch eine Platte?” Es geschieht also ziemlich von alleine. Die Menschen, die deine Musik hören, sind in gewisser Weise immer ein Spiegel deiner Kunst. Für mich geht es nicht darum etwas zu schreiben was gefällt oder nicht gefällt, was verkauft wird oder nicht. Für mich geht es darum, mit meinen Liedern etwas zu erzählen und ob diese Form von Kommunikation beim Publikum ankommt oder nicht. Wir können uns unterhalten, oder ich entscheide dir etwas mit einem Song mitzuteilen. Das ist dann meistens tiefgründiger und unerwartet, denn die Musik transportiert, zusätzlich zum Sinn der Wörter, all das was nicht erklärbar ist. Unsichtbar. Beinahe Himmlisch.

Viele der Lieder auf deinem Album erzählen von Kindheitserinnerungen. Welche Bedeutung hat das Gedächtnis für dich?

Das Gedächtnis ist ein entscheidender Fiter. Und gleichzeitig ist es auch eine Täuschung. Du wählst immer selbst aus, welche Erinnerungen aus der Vergangenheit dir helfen deine Gegenwart zu überstehen. Das, an was wir uns erinnern, ist am Ende vielleicht ein Prozent von dem, was wir wirklich erlebt haben. Das Schreiben von Songs bringt mich meistens auf viele verschiedene Wege meines Gedächtnisses. Auf denen erinnere ich mich dann an Dinge, die vorher vielleicht hinter Worten, hinter einer Floskel oder einer bestimmten Erfahrung versteckt waren. Und sobald ich dann eine Sache wiederentdecke, leuchtet sie für mich auf. Dann leg ich sie ins Körbchen. Das Gedächtnis sollte also nicht nur für die schönen Erinnerungen da sein, sondern sich auch an die Zukunft richten.

Das bringt mich zu meiner nächsten Frage: Ist es wichtig sich zu erinnern, um die eigene Zukunft zu gestalten?

Viele von uns vergessen oft die Bedeutung der eigenen Identität, die uns zu dem macht, was wir sind. Das heißt unsere Kindheit, die Herkunft unserer Traditionen, der Wörter die wir verwenden, was wir tun, was wir sagen. Meine ganzen Verwandten sind für mich Bücher, die ich durchstöbern und aus denen ich lernen kann. Du kannst mit dem, was du über deine Familie weißt, bereits zehn, zwanzig andere Leben gelebt haben. Und das ist wichtig im Hinblick auf die Zukunft.

Was würde sich deiner Meinung nach verändern, wenn wir öfter zur Einfachheit der kindlichen Worte und des kindlichen Blicks zurückkehren würden?

In unserem Leben würde sicherlich ein Element dazukommen: Die Verletzbarkeit. Ein Kind ist immer auf eine gewisse Art und Weise verletzlich oder in Gefahr, wenn es nicht beschützt wird. Wenn wir also etwas mit der ehrlichen Verwunderung und dem Staunen eines Kindes offenbaren, dann zeigen wir uns dem anderen gegenüber verletzbar. Wir sind so nicht mehr durch einen Wattebausch, also unsere herkömmlichen Filter geschützt. Das ist meines Erachtens wichtig! Dein Gegenüber hat zwei Möglichkeiten: Entweder er ergreift dich an, weil er sieht, dass du dein herz öffnest und er sticht mit der Gabel hinein. Oder er erkennt sein eigenes Herz und entscheidet, dass er es genauso machen will, wie du. Hoffen wir auf die zweite Wahl. Und wenn nicht sollte man eine Technik entwickeln, den anderen beiseite zu schieben. Jedes Mal aber wenn wir uns öffnen, sehen wir wenn jemand darauf antwortet. Meines Erachtens ist das ein Prozess, der gelehrt werden sollte: „Spring! Dir kann nichts passieren!“

Ehrliche Worte, anstatt einer Maske?

Genau! „Less is more“. Wir kommunizieren die ganze Zeit soviel. 60 Milliarden Dinge am Tag. Aber am Ende verrät schon unserer Körperhaltung, eine Geste, der Tons der Stimme, ein Blick, ein Lachen wer wir sind. Es ist nicht nötig, dass wir das auch kommentieren.

Sfardo! Heißt übersetzt soviel wie „Ich spalte oder zerreiße“… gibt es einen Riss, den du mit deiner Musik wieder quitten willst?

In erster Linie hat der Titel des Albums für mich eine symbolische Bedeutung, weil „Sfardo“ das erste Lied war, dass ich auf Sizilianisch geschrieben habe. Davon abgesehen, glaube ich, dass diese Platte tatsächlich etwas spaltet, denn sie ist anders als vieles, was bisher in Sizilien produziert wurde. Das heißt weder besser noch schlechter, nur anders. Der palermitanische Dialekt wurde bisher noch nicht für solche Art von Musik verwendet. Und dann ist es für mich auch ein Symbol für die Entstehung eines Songs an sich: Wenn ein Lied entsteht, wird etwas gebrochen. Sozusagen die Seele gespalten.

Und diesen Bruch, heilt die Musik dann?

Dieser Bruch ist eigentlich die Basis der Musik. Der Samba oder der Blues haben mir immer gefallen, weil sie mit Saudade und Schmerz beladen sind. Das war auch der Grund, warum ich „Sfardo“ geschrieben habe. Es gab Dinge, die ich in mir lösen musste und indem ich darüber gesungen habe – über sehr sehr lange Zeit – hab ich mich schließlich vollständig geheilt.

Die Entscheidung deine Lieder im sizilianischen Dialekt zu verfassen, ist sicherlich eine ziemliche mutige Entscheidung. Was gab dir das Vertrauen dazu?

Das Vertrauen dazu gaben mir meine Lieder. Ich glaube, dass die Lieder auf diesem Album wirklich schön sind. Deswegen dachte ich mir: Warum nicht den Irrsinn wagen! Am Ende war es nicht einmal meine Entscheidung, sondern etwas, das von alleine kam. Ich sage das jetzt nicht, um cool zu klingen, aber ich weiß wirklich nicht vorher diese Lieder kommen oder wie man sie schreibt. Bevor ich dir ein Lied vortrage, muss es wirklich perfekt sein. Daher verbringe ich manchmal Jahre damit eins zu schreiben. Es war definitiv ein Zusammenspiel von vielen Dingen, die mich dazu gebracht haben, dieses Album zu schreiben. Ich hatte damals Schauspiel und Theater studiert, was sicherlich zu einer gewissen Form von Pseudo-Eigentherapie geführt hat und ich war in einer guten Beziehung, die mir geholfen hat.

Abgesehen vom palermitanischen Dialekt, besteht deine Musik aus zahlreichen anderen Farben und Formen. Wer oder was hat deine Lieder beeinflusst?

Es gibt ungefähr eine Milliarde von Musikern, die mich beeinflusst haben! Wirklich! Eine davon, die für mich fundamental war, vor allem in den letzten Jahren, ist Nêga Lucas. Die wenigstens kennen sie leider. Sie hat mir viel über Musik beigebracht. Vor allem auf einem persönlichen Level. Wir haben auch einiges zusammen entwickelt und das war sehr inspirierend.

Surrealist oder Realist?

Surrealist, gefällt mir sehr. Sicherlich mehr Surrealist als Realist. Aber sagen wir, dass von beiden etwas dabei ist. Eines schlägt das andere. Mein Gemüt entspricht wahrscheinlich mehr dem eines Surrealisten. Wenn ich schreibe, dann versuche ich mich mehr dem Traum, als der Realität zu widmen.

What comes next?

What comes next… Also ich habe gerade mein neues Album aufgenommen und jetzt beginnt das Abenteuer „Mastering“. 2018 wird es hoffentlich erscheinen, sonst schmeiß ich meine Karriere ins Klo (lacht). Jetzt widme mich jedoch ein wenig der Promo von „Sfardo“ im Ausland und toure durch Europa. Nach Hamburg und Berlin warten Brüssel, England und Spanien. Ich genieße die positive Energie des Reisens und lass das nun alles auf mich wirken.

Last but not least: Deine Frage

Werde ich es schaffen? – sicherlich nicht bezogen auf die Karriere oder den Erfolg, sondern eher persönlich… finde ich wirklich meinen Platz in dieser Welt?

Folgt dem Alessio Bondì auch auf FB + Insta um mehr über ihn zu erfahren.

all photo by Helen Hecker