“When we are children we seldom think of the future. This innocence leaves us free to enjoy ourselves as few adults can. The day we fret about the future is the day we leave our childhood behind.”

Mama meinte bereits am Vorabend, ich solle mich nicht wundern wenn ich morgen dort hinfahren würde. Einiges scheint sich verändert zu haben. Ziemlich nah dran, dafür, dass es so weit weg ist dachte ich, als sich die Türen des Busses am darauffolgenden Tag öffneten. Da war der Parkplatz vor dem Baumarkt, auf dem ich mich mit 16 das erste Mal Hals über Kopf in diesen Jungen verliebte. Was wäre passiert, wenn’s nicht passiert wäre? Gegenüber die Bushaltestelle, die noch immer Szenerien meiner Jungend bereit hält, 2 Meter dahinter der Supermarkt der einer Ladenstraße weichen musste und keinerlei Indizien vergangener Zeiten aufweist. Es genügte ein Blick vom Parkplatz hinüber zur Ladenstraße um zu verstehen, dass die Orte meiner Kindheit sterben.

Die Peripherie war der Mittelpunkt meines Lebens. Nichts war wichtiger als Treffpunkte, Cliquenhierarchie und die Sicherheit der Provinz. Diese Sicherheit zu verlassen war real, aber nicht präsent. Und so merke ich, dass jedes einzelne Haus entlang der Hauptstraße unbewusst Teil meiner Kindheit als auch Jugend war. Ziemlich nah dran, dafür, dass es so weit weg ist, denke ich, als ich die Seitenstraße einbiege und merke, dass sich Sympathie und Antipathie gegenüber alldem stetig die Waage halten. Hübsch geschnittene Hecken, gepflegte Vorgärten und Autos, die den Status des Besitzers verraten. Die Provinz ist ein schöner Ort, um an Bequemlichkeit zugrunde zu gehen. Alles hat seine Ordnung, immer noch. Vielleicht stirbt ja doch nicht alles. Es beruhigt mich kurz, dieses Gefühl von vertrauter Ordnung, die mich wohl mehr geprägt hat als mir lieb ist. Danach frage ich mich, warum der Drang überhaupt besteht, hierher zurückzukehren, wenn auch nur kurz.

Ich laufe an den Häusern meiner Klassenkameraden vorbei. Vieles hat sich nicht verändert. Das ein oder andere Haus glänzt mit neuem Anstrich. Frage mich, ob die Eltern meiner ehemaligen Mitschüler dort immer noch wohnen, ob sich ihr Alltag nach nunmehr 10 Jahren großartig verändert hat. Vermutlich nicht. Je weiter ich die Straßen des Dorfkerns entlang spaziere, rast meine Jugend vor meinem inneren Auge an mir vorbei. Alles Erlebte scheint klar und existent vor mir zu liegen. Als würde sich jeden Moment die Haustüre der Wohnung meiner besten Freundin öffnen und mich herein beten. Seit nun zwei Jahren haben wir keinen Kontakt mehr. Unsere Freundschaft driftete auseinander – und das bereits zwei Jahre nach dem gemeinsamen Wegziehen aus der Kleinstadt. Kurz tut der Gedanke an das was wir nicht mehr haben höllisch weh. Kurz merke ich, dass ich gerne mit ihr durch die Straßen spazieren würde, mich mit ihr austauschen möchte. 14 Jahre haben wir geteilt. Die guten, die schlechten. Jetzt verbindet uns nur noch die Vergangenheit.

Alles ist neu und alt zugleich. Meine Gedanken, meine Umgebung, meine Gefühle, meine Erinnerungen. Nostalgie und Avantgardísmus klatschen sich ab, die Gegenwart irgendwo dazwischen. Alles wirkt unglaublich vertraut. Mein Streifzug durch den Dorfkern endet vor dem Haus, in dem Mama und ich zuletzt wohnten. Die jetzigen Mieter haben einen Balkon an mein altes Zimmer gebaut. Mit Blick auf die Hauptstraße. Ich erinnere mich, dass in diesem Haus viel schief lief. Insbesondere zwischenmenschlich betrachtet trauere ich diesem Ort keine Träne nach. Doch das große Ganze hat bestand. Irgendwo in mir. Dort, wo Prägung und Abneigung aufeinandertreffen und ein Arrangement eingehen müssen. Dort, wo für immer ein Platz für all das ist, das ich jetzt immer noch aus sicherer Entfernung betrachten kann, aber jederzeit flüchten darf. Zwischen Dankbarkeit und friedvollem Abstand. Mein Leben findet in 500km Entfernung statt. In einer Umgebung für die ich mich aus freien Stücken entschieden habe. Das ist der natürliche Lauf der Dinge, oder? Nach dem Abi fürs Studium muss man weg, klar. Vielleicht sterben die Orte meiner Kindheit nicht. Vielleicht ist es das Gefühl des Voranschreitens in unserer Selbstbestimmtheit die uns vor Augen führt, wer wir waren und wer wir vielleicht auch nicht mehr sein wollen. Nichts davon können wir einfach so abstreifen, doch so nutzen, dass es sich in Folgezeiten als sinnvoll erweist. Nichts stirbt jemals ganz, wenn wir mit der Veränderung der Dinge an sich klar kommen. Ziemlich nah dran, dafür, dass es so weit weg ist, denke ich als ich auf die Haupstraße zurückkehre und den nächsten Bus zurück ins Jetzt nehme.