Aufgepasst, ich habe einen Entschluss gefasst! Er ist so unerschütterlich wie der Fels in der Brandung: Im nächsten Leben möchte ich als Vagabund wiedergeboren werden. Mein Hab und Gut in einem Sack, die Haut geschändet von der Sonne und Freunde wohin mein Herz mich trägt. Ok, zugegeben, das klingt hier gerade ganz schön kitschig. Aber Spaß beiseite: Ich glaube die Welt braucht mehr Vagabunden! Warum? Ich versuche es in Worte zu fassen...

Ein Monat ist nun vergangen seit ich Berlin den Rücken gekehrt habe und meine Flucht Richtung Süden antrat. Sozusagen mein obligatorischer Versuch jährlich dem Berliner Nicht-Sommer entgegenzuwirken und mein sizilianisches Vorleben wieder aufflammen zu lassen. Der Abschied fiel mir nicht leicht. Guten Freunden und vielen Menschen, denen ich im Sommer in Berlin begegnet bin und die mich inspiriert hatten, sagte ich vorerst „Ciao Ciao!“. Ohne genau zu wissen, wann ich eigentlich zurückkomme. Und genau das, brachte mich schließlich auch auf den Geschmack des Vagabunden. „Vorläufig ohne Verfallsdatum“ war meine Devise, einfach von einer Etappe zur anderen, immer auf der Jagd nach neuen Inspirationen.

Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung. (M. Frisch)

Mittlerweile lebe ich seit einem Monat aus dem Koffer, habe alle paar Tage in anderen Häusern übernachtet und ein wenig vergessen wie sich „zu Hause“ anfühlt. Natürlich bin ich leider zu keinem echten Vagabunden mutiert, sondern habe nur hier und da von der süßen Frucht probiert. Weder ziehe ich mit dem großen Backpack durch völlig fremde Welten, noch verbringe ich meine Tage mit völlig Unbekannten. Stattdessen hatte ich endlich wieder Zeit für Freunde und Freundschaften. Das hört sich zwar ziemlich banal an, ist aber in Wirklichkeit das größte Geschenk was man sich selbst machen kann.

Jede Woche des letzten Monats bin ich mit anderen Menschen durchs Land gezogen und habe viele inspirierende Gespräche geführt. Zuerst ging es mit meiner „Perla“ Saskia in ein kleines Bergdorf namens Trarego Viggiona am Lago Maggiore. Ich glaube kein Ort ist besser dafür geeignet, um völlig herunterzufahren! Verschlafene Gässchen, der Duft von Pinien und dichten Wäldern, süße Trauben und ein glitzernder See weit unten im Tal, eingerahmt von sehnsuchtsvollen Bergen. Der perfekte Reisestart für ein endloses Sommermärchen.

Trarego Viggiona
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Nun war der weitere Schritt auf die Insel nicht mehr weit. Meine nächste Weggefährtin war meine 19-jährige Nichte Marie, die mich nach Sizilien begleitete, gefolgt von meinen beiden Freunden Michael und Olli und unzähligen anderen Freunden und neuen Bekanntschaften, die hier und da aufpoppten. Über jeden einzelnen könnte ich ganze Geschichten schreiben und jeder einzelne hätte sein Gewicht darin.

Geraci Siculo
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Besonders mit Michael begann ich jedoch zu verstehen, wie sich so ein „Leben auf Achse“ anfühlen könnte. Der australische Singer-Songwriter, der nun seit fünf Jahren in Berlin lebt und die Welt mit seiner Gitarre und Stimme erobert, kennt den Sound der Straße wie kein anderer. Nicht nur seine Lieder erzählen von der ewigen Wanderung. Während unserer gemeinsamen Tour durch Sizilien füllte er ganze Abende mit Geschichten von seinen Reisen um die Welt. Jahrelang ist er durch die Kontinente gereist, von Südamerika bis nach Japan. Seine Heimat Brisbane und viele Freunde dort hat er schon lang nicht mehr gesehen. Dafür hat er jedoch in jedem Land, das er betrat, neue Freunde hinterlassen. Und nicht nur die…

Michael Brinkworths neuestes Video „Country Town“

Jede „Wanderschaft“, jede Reise, ist gesäumt von Begegnungen und kulturellen Erfahrungen, die uns verändern. Von keiner Reise können wir zurückkehren, wie wir vorher waren. Zu mindestens wenn es eine Reise ist, auf der wir uns der Welt öffnen. Und all diese Erlebnisse tragen wir in uns, nehmen sie mit und geben sie bei jeder neuen Begegnung wieder an jemand anderen weiter. Damit verändern nicht nur wir uns, sondern wir verändern auch die anderen. Wie ein Samenkorn, das neue Ideen und Perspektiven gedeihen lässt. Bereichern wir diese Erfahrungen dann noch mit Musik und Kunst, hinterlassen wir einen Fußabdruck, der sich fest in das Gedächtnis der Welt einbrennt. So wie Michael.

Die Vagabunden sind das Salz der Erde, oder wenigstens der fliegende Samen, der die sonst fest am Boden klebende (…) Kultur über die ganze Erde verbreitet. (F. Spielhagen)

Auf meiner momentanen Wanderung, die noch nicht zu Ende ist, sondern deren Deadline ich um einen weiteren Monat verlängert habe, wurde mir vor allem eins klar: Die Welt braucht mehr Vagabunden! Ihr Spirit lässt uns wachsen. Warum? Weil die Vagabunden uns beweisen, dass die ganze Welt unser zu Hause ist. Dass Grenzen nur bestehen, weil wir sie schaffen. Dass egal wohin wir gehen, wir uns nach Menschen sehnen, die uns offen entgegentreten. Und dass wir selbst wiederum durch unsere Einstellung beeinflussen, wie andere uns wahrnehmen.

Jeder von uns kann ein Samenkorn sein, das über die Erde hinwegfegt und dabei die wahren Schätze der Welt verteilt: Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Wissen und Kultur. Der Vagabund strebt nicht nach viel Besitz oder bereichert sich im Übermaß. Er grenzt auch niemanden aus, weil er die Einsamkeit der Reise kennt. Seine Geselligkeit und sein Weitblick sind heute wertvoller denn je zuvor. In einer Zeit in der erneut nationale Gesinnung und Ellenbogen-Mentalität mehr zählen, als Humanismus und kulturelle Vielfalt, wird der Vagabund zu meiner persönlichen Galionsfigur!